Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, der sieht mehr als andere. Diese Erfahrung machte auch ein Kurgast, der am Lister Strand eigentlich nur ein Sonnenbad nehmen wollte. Doch dann mag er an diesem heißen Julitag des Jahres 1960 seinen Augen kaum trauen: Glaubte er doch tatsächlich, soeben in den Fluten ein mächtiges Walross erblickt zu haben.
Doch so recht mag ihm dies keiner glauben, als er am Abend in geselliger Runde von seinem ungewöhnlichen Erlebnis berichtet. Wen wundert’s auch? Schließlich leben Walrösser bekanntlich im fernen Polarmeer, und an den Sylter Strand hat sich noch kein Vertreter dieser Spezies verirrt.
Wenige Tage später ist die Sensation perfekt: “Tatsächlich, ein Walross. Ich habe es an der Nordspitze gesehen”, vermeldet der Lister Seehundjäger Curt Dethlefs. Nun häufen sich die Sichtungen. Fischer und Strandläufer sehen den massigen Körper aus den Fluten auftauchen. Zwei Jugendliche, die mit dem Boot hinaus aufs Meer zum Angeln fahren, werden von dem Tier sogar attackiert. Nun steht fest: Das Walross muss sterben, ehe es noch größeren Schaden anrichtet.
Am 27. Juli entdeckt Curt Dethlefs das Tier am Strand des Ellenbogens und schießt es nieder. Mit einem Kran wird es im Lister Hafen von einem Schiff an Land gehievt. Zahlreiche Schaulustige bestaunen den wuchtigen Koloss, der da auf der Pier liegt. Vier Meter lang ist die Walrosskuh und 1500 Pfund schwer. Die Untersuchung ergibt: Der Irrgast war so oder so dem Tode geweiht. Abgemagert, der Magen fast leer, war das Tier dem Verhungern nahe.
Für die Presse war die Meldung zumal im “Sommerloch” ein gefundenes Fressen. “Zoologische Sensation!” und “Musste das Walross sterben?” rauschte es durch den deutschen Blätterwald. Ein Sylter Journalist sammelte die Zeitungsausschnitte: 114 Artikel kamen dabei zusammen.